Donnerstag, 30. September 2010

Havanna, erster Tag

Unfassbar. Dieses Wort ist mir wahrscheinlich noch nie so oft durch den Kopf gegangen wie heute.

Unfassbar war schon die Einreise nach Kuba in der vergangenen Nacht. Die Grenz
-Offizielle mit dem Einreise-Stempel fand Auffälliges in meinem Reisepass (ich habe keine Ahnung, was das gewesen sein könnte) und bat mich vom Schalter zurückzutreten und zu warten. Ein herbeigerufener Kollege kam, fragte mich dies und das. Dann schien alles okay zu sein. Doch auch beim zweiten Versuch wurde ich wieder rausgewunken. Offenbar behagte den Aufpassern mein Beruf nicht. Meiner Zusicherung, ich sei Lokaljournalist im Urlaub, glaubte man dann letztlich doch. Beim dritten Versuch durfte ich einreisen. Kurz nach Mitternacht kam ich im Hotel an. Das Fernsehen zeigte gerade eine Rede von Fidel Castro.

Heute habe ich mich in der Stadt umgeschaut. Es ist unfassbar: Die Bausubstanz zerbröselt augenscheinlich schneller als die Gesundheit der herrschenden Brüder. Ich versuche, nicht allzu auffällig zu sein, während ich durch die Straßen der Innenstadt laufe, weil man als Tourist ständig angesprochen wird. Aber manchmal stehe mit offenem Mund vor den Ruinen einst herrschaftlicher Häuser. Jugendstil in Trümmern. Es sieht tatsächlich an manchen Stellen aus wie nach einem Krieg.

Wie ich da so stehe, werde ich prompt wieder angesprochen. "Amigo, willst Du was? Brauchst Du was? Ich zeige Dir was!" - das ist die übliche Masche, wie ich schon nach zwei Stunden Rundgang weiß. In diesem Fall will mir José - der wie alle anderen angeblich einen Freund in Deutschland hat (klassischer Gesprächs-Einstieg) - ein günstiges Zimmer vermieten. Ich ahne, wie die Sache weitergehen wird, lasse ich mich aber trotzdem darauf ein, weil ich auf diese Weise schon am ersten Tag einen kleinen Einblick bekommen kann, wie das Leben hinter den Trümmer-Fassaden aussieht.

Leben in Ruinen: Hinterhof eines mehrgeschossigen Mietshauses aus der Zeit der Jahrhundertwende, eine Holztreppe hinauf, die wackelt, als könnte sie jeden Moment einstürzen. Wo ist eigentlich das Treppenhaus? Sechs Menschen leben in einer kleinen Wohnung. Eine Frau liegt lethargisch auf dem Boden in der Küche, offenbar hat sie geschlafen. Man zeigt mir die Lebensmittel-Bezugsscheine, um mir zu beweisen, dass man hinten und vorne nicht klar kommt. Die kleine Tochter wird mir vorgeführt, für sie braucht man so dringend Milch-Pulver, das man sich nicht leisten kann. Klar: Jetzt bin ich dran, ich soll Milch-Pulver kaufen. Wer kann bei so viel Armut schon Nein sagen? Also gehen mein "Amigo" und ich einkaufen.

Mehr als ein halbes Dutzend Geschäfte klappern wir ab, weil es natürlich nicht bei Milchpulver bleibt. Auch Oliven-Öl braucht die Familie dringend, das aber ist nirgendwo aufzutreiben. Auch nicht in den Geschäfte, in denen man de facto mit US-Dollars bezahlen muss. Immerhin gibt es dort etwas zu kaufen. Die Läden, in denen man mit dem einheimischen Peso bezahlen kann, stehen manchmal nur sechs Waren exemplarisch in den Regalen. Sie sind dort erhältlich - mehr nicht. Die Einkaufs-Wunschliste wird derweil länger. Ich winke ab, denn ich habe definitiv genug verschenkt. Grußlos zieht mein Amigo ab. Auf Nimmerwiedersehen.

Also setze ich meinen Rundgang fort. Immerhin: Ich sehe auch Viertel, die einigermaßen intakt scheinen - vor allem außerhalb des Zentrums und der touristische Teil der Altstadt. Der größte Teil der Häuser aus der vorvorigen Jahrhundertwende bröselt freilich vor sich hin.

Unfassbar: In der Innenstadt gibt es an manchen Stellen so wenig Verkehr, dass Katzen unversehrt Hauptverkehrsstraßen überqueren und Hunde gefahrlos mitten auf die Straße machen können. Der Motorisierungsgrad ist insgesamt so gering, dass die
City ganz anders klingt als die meisten anderen Großstädte. Statt des verkehrsbedingten Rund-um-die-Uhr-Dauer-Brummens, das bestenfalls nachts etwas abschwilllt, hört man in Havanna Menschenstimmen. Reden, schimpfen, schreien, lachen - auf dem Balkon meines Hotelzimmers im fünften Stock höre ich das aus allen Richtungen.

Zwischen unfassbar und schwer genießbar schwankt das Abendessen im Hotel-Restaurant. Vor allem erinnert es stark an die DDR - es fehlen nur die geblümten Plastik-Tischdecken. Die Karte listet je vier Vorspeisen und Hauptgerichte auf. Die Hälfte davon gibt es nicht, zum Beispiel kein Obst und kein Gemüse - obwohl man auch hier mit "konvertiblen Pesos", also de facto mit US-Dollars bezahlt.

Nach dem Essen gehe ich nochmal vor die Tür. Doch in den dusteren Straßen finde ich keine Kneipe oder etwas Ähnliches. Auch die Idee, sich von einem Taxi zu einer Discothek fahren zu lassen, ist keine gute Idee. Dort angekommen, bieten mir zwei einschlägig tätige Frauen ihre Dienste an. Der Bar-Mann will mich morgen zu sich nach Hause einladen, wo es einen tollen Blick aufs Meer gibt, ganz selbstlos versteht sich. Ich lehne dankend ab und gebe die Hoffnung auf, dass noch ein zweiter Gast kommen könnte. Mit einem Taxi geht es nach Hause.

So sitze ich zum Abschluss des Tages also noch einmal auf dem Hotel-Balkon - mitten in der Innenstadt - und höre jetzt sogar Grillen zirpen, die irgendwo in einer Haus-Ruine sitzen müssen. Es mag sein, das ich mich in zwei, drei Tagen ein wenig an den "Way of life" in Kuba gewöhnt habe. Dass ich mich sicher durch die Stadt bewege, die mir noch vor kurzem fremd war, und ihre Vorzüge entdecke - so wie es auch in anderen Städten gewesen ist. Und natürlich weiß ich auch, weshalb hier alles so ist, wie es ist. Doch eine Stadt, in der jeder - aber auch wirklich jeder - versucht, Geld aus Dir rauszuschütteln, fühlt sich bis bis jetzt nicht gut an. Unfassbar...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen